Als ich kürzlich nach Italien fuhr, machte ich in einem kleineren Ort am Bodensee Station. Dort lebt eine Schulfreundin von mir, die eine Buchhandlung führt.
„Warum liest du nicht mal bei uns?“, fragte sie mich beim gemütlichen Beisammensein.
„Weil ich Lesungen nicht ausstehen kann“, antwortete ich. Und nannte gleich alle meine Gründe:
Wenn der Saal voll ist, werde ich nervös. Ist er fast leer, werde ich noch nervöser und fühle mich obendrein auch noch elend. Sind meine Texte so schlecht, dass niemand sie hören will? Frage ich mich dann. Wenn ich lese, bekomme ich außerdem nach spätestens fünf Minuten einen trockenen Mund, die Zunge klebt am Gaumen, und ich muss befürchten womöglich nur noch vor mich hinzulallen zu können.
„Wir stellen dir ein Glas Wasser hin!“, bot meine Freundin an.
Wasser? Was, wenn ich mich verschlucke? Eine entsetzliche Vorstellung. Ich huste und huste, aus den Augen laufen Tränen, um mich herum sind alle peinlich berührt, und wenn ich dann endlich irgendwann weiterlesen kann, piepse ich wie eine Maus. Ach ja, und ich habe eine nervöse Blase, vermutlich halte ich keine Stunde durch und das muss man den Leuten ja schon bieten, oder?
„Papperlapapp!“, sagt meine Freundin.
„Ich weiß gar nicht, was ich zu so einer Lesung anziehen soll“, murmle ich vor mich hin. „Und die Haare?“ Was erwartet mein Publikum eigentlich von mir?
Meine Freundin bläst die Backen auf und schaut demonstrativ in die Luft. Sie hasst Ausreden.
„Hör zu, wir machen das ganz kuschelig. Wenn du in zwei Wochen zurückkommst, habe ich eine Lesung organisiert. Nur Stammkunden, aber jeder Stuhl in meinem kleinen Laden wird besetzt sein. Sie werden dich mögen, egal, ob du dich verhaspelst und unabhängig davon, was du anhast. Versprochen!“
„Lesen, das ist doch langweilig“, starte ich den letzten Versuch. „Wenn ich einfach vorlese, schlafen die doch alle ein.“
„Dann mach eben was anderes draus. Spiele das, was du liest. Das machst du sonst ja auch manchmal“.
Sie spielt auf die Abende mit ihrer Mädelsclique an. Nur, dass wir da ganz unter uns sind und ich schon zwei Wein getrunken habe …
Aber sie kennt kein Pardon. Schon in Italien übe ich also „Guten Abend, meine Damen und Herren. Schön, dass Sie da sind!“ Halt! Wieso Herren? Womöglich kommen gar keine.
Also, noch einmal von vorne. „Guten Abend, meine Damen.“ Klingt so steif. „Hallo Mädels!“ Viel zu distanzlos. „Guten Abend“ muss reichen. So geht das, und als ich zurückfahre, bin ich schon schweißgebadet, bevor ich überhaupt den Ort des Geschehens erreiche. Meine Freundin hat Wort gehalten.
„Entre nous“ hat sie den Abend genannt. Es gibt Sekt und Häppchen. Beides für „nachher“, wofür ich ihr dankbar bin. Es soll ja Leute geben, die kommen nur deshalb. Die müssen jetzt erst einmal durchhalten und mich ertragen. Ha!
Ich trinke Kamillentee, das soll angeblich die Stimmbänder geschmeidig machen und dämpft die Nervosität.
Die anwesenden Damen und tatsächlich auch zwei Herren applaudieren höflich bei meinem Anblick. Ich erzähle ein bisschen von Tina, der Hauptfigur aus „Lesbisch für Anfängerinnen“. Dann finde ich im Buch die Stelle die ich als Erste lesen wollte nicht, das Post-it muss abgefallen sein. Ich hab’s ja gewusst! Egal, dann eben gleich das Kapitel, als Tina sich mit ihrem Ex beim Italiener trifft. Der hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie zurückerobern zu können.
Während sie lange auf ihr Essen warten müssen, picheln sie Aperitivos. Tina erzählt unvorsichtigerweise, dass sie jetzt mit lauter Lesben zusammenwohnt. Dann passiert es …
„ … im Hintergrund nahte Francesco mit zwei Tellern. Ich fing schon mal an, meine Serviette auseinanderzufalten. Dummerweise sprang mein Ex in dem Moment hoch … „
Es war mucksmäuschenstill im Raum. Schlafen die schon? Ich wagte nicht, aufzublicken. Mein Hals dörrte plötzlich aus, als sei ich in der Wüste. Vielleicht sollte ich das Ganze doch ein wenig lebhafter gestalten …
Ich sprang auf, trat hinter meinem Tisch hervor, das Buch in der Linken, die Rechte theatralisch erhoben
„… ich wollte ihn noch warnen, doch mit seinen wild fuchtelnden Händen“ – ich zeigte, was ich las – , „katapultierte er die Teller weit in die Luft“ – ich zeigte, wie weit, indem ich die Arme ausbreitete und sie hin und her schlenkerte. Die Rechte streifte dabei eine kleine Pyramide aus Süßigkeiten, die auf einem Tisch neben mir angerichtet war.
„… sodass Gnocchi Gorgonzola und Tagliatelle Alfredo in buntem Reigen durch die Luft flogen!“ Die kleinen, in goldfarbenem Papier verpacken Kügelchen unterstrichen meine Worte. Irritiert drehte ich mich um, als ich darüber hinaus ein Klirren hörte. Ein Glas war ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden und zu Boden gegangen. Die Flasche Sekt im Kühler hielt meine Freundin geistesgegenwärtig fest, vermutlich wusste sie nicht mehr genau, wie es an dieser Stelle im Buch weitergeht.
„Sie sehen, wohin das führen kann“, sagte ich in den angehaltenen Atem meiner Zuhörerschaft hinein. Wir alle brachen in ein äußerst befreiendes Lachen aus. Den Rest der Lesung brachte ich mit Anstand und Würde über die Bühne.
„Ging doch gut“, meinte meine Freundin danach grinsend.
„Nächstes Jahr machen wir das wieder!“ Ich nickte. Dabei habe ich mir still vorgenommen, nächstes Jahr lieber nach Island zu fliegen.
Veröffentlichung – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung der Autorin.
(c) Celia Martin