Die erste Sieben-Minuten-Lektüre von Celia Martin … nimm diesen Text!

„Nimm diesen Text“, sagt meine Freundin Nele oft zu mir.
Dann schiebt sie mir ein Blatt Papier, manchmal auch eine Diskette oder eine CD-Rom zu und zwinkert, immer genau drei Mal.
Nele hat Fantasie, sie hat Ideen, jede Menge. Viel zu viel für sie selbst alleine, wie sie oft sagt. Und meistens zündet sie ein Feuerwerk, beginnt etwas und kann oder will es dann nicht zu Ende führen. Denn das ist Neles großes Manko – sie beginnt viele Dinge, die sie nie zu Ende bringt!

Ein typischer Abend mit Nele sieht ungefähr so aus: wir sitzen irgendwo, vielleicht in einem Lokal, einer Bar, einem Nacht-Café und reden über Gott und die Welt. Irgendwann fangen Neles Augen an zu glänzen, auf eine ganz eigenartige, besondere Art und Weise. Inzwischen kenne ich das, weiß, was gleich darauf folgen wird.
„Ich hab’ eine Idee“, sagt sie dann, beispielsweise.
„Was für eine Idee?“, frage ich.
„Es geht um die Frau mit dem Hund und den Mann.“
Das sagt sie, als wir uns neulich treffen.
„Aha“, sage ich und schaue ihr zu.
Nele wühlt in ihrer großen Tasche und zieht etwas heraus. Manchmal ist es ein leerer Briefumschlag. Vielleicht das Überbleibsel ihrer Telefonrechnung oder ihrer Steuererklärung. Oder die unbedruckte Rückseite eines Werbebriefes, den sie nie gelesen hat. Sie hasst Verschwendung, unbedrucktes Papier einfach so wegzuwerfen, widerstrebt ihr aus tiefster Seele. Also benutzt sie es, schreibt Ideen darauf oder Einkaufszettel oder eine ihrer geliebten „To Do“ Listen.

Jetzt geht es also um eine Idee für eine Geschichte.
„Also die Frau, die geht mit ihrem Hund spazieren.“ Während Nele das erklärt, schreibt sie „Frau + Hund“ auf das Papier und kringelt es ein.
„Dann kommt der Mann ins Spiel“, sagt sie und schreibt „Mann“ dazu, ebenfalls eingekringelt. An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, legt sie den Kopf schief und zieht ein wenig die Nase kraus. Es ist der richtige Zeitpunkt, ein zweites Glas Wein zu bestellen. Nele trinkt immer Wein, egal wo wir sind. Sie mag weder Bier noch Cocktails und hat selten Anfälle von Appetit auf Wodka oder Whisky.
„Noch einen Grauen Burgunder“, sagt sie zum Kellner und ich nicke und nehme dasselbe, es ist an diesem Abend auch mein Getränk. Nele nimmt den Stift wieder auf, aber ihr Blick geht irgendwo ins Unendliche.
„Es ist Nacht, es ist klirrend kalt. Die Halbmondsichel spiegelt sich im Wasser des Mains, das leise klatschend an die steinerne Uferbefestigung schlägt. Die Frau hat den Mantel eng um sich gezogen, sie geht mit dem Hund am Flussufer entlang. Die Lampen werfen lediglich ein blasses Licht auf die beiden.“
„Warum geht die Frau so spät nachts noch spazieren?“, will ich wissen. So läuft unser kleines Spiel, sie fantasiert, ich klopfe die Dinge auf Realitätsbezug ab.
„Der Hund musste raus. Er ist ihr ein und alles. Sie ist sehr alleine sonst. Arbeitet lange. Vielleicht ist sie Bedienung in einer Bar?“ Nele grinst und schreibt „Bedienung Bar?“, neben „Frau + Hund“.
„Es ist so kalt, man hört das Eis knirschen“, fährt sie fort.
„Aber Nele, eben hat das Wasser des Mains noch an die Uferbefestigung geklatscht. Wo soll denn jetzt das Eis herkommen?“
Wir überlegen ein wenig, kommen dann zu dem Entschluss, dass nicht das Eis knirscht, sondern der Schnee, der überall auf dem Rasen festgefroren ist.
„Okay, also der Schnee knirscht, wenn sie ab und zu von der Uferpromenade ein paar Schritte auf den Rasen machen muss. Der Hund zittert vor Kälte, ist aber gleichzeitig nervös, sensibel und rennt hin und her. Die Frau hat gehofft, er würde sein Geschäft schnell verrichten, damit sie gleich wieder zu Hause sitzen kann, im Warmen. Statt dessen rennt der Köter herum, schnüffelt überall und hebt sein Bein nur immer ganz kurz, um ein paar Tropfen abzupressen. Ihr ist kalt. Sie hat den Mantel eng um sich gezogen, doch vor Mund und Nase bilden sich weiße Atemwölkchen und ihre Füße fühlen sich an wie Eisklumpen.“
Mir ist, als sinke bei ihren Worten die Temperatur im Raum um einige Grad. Vor meinem geistigen Auge taucht auf einmal die Frau auf. Ein schmales, blasses Gesicht. Nach dem langen Arbeitstag sieht sie müde aus, lediglich die Kälte hat sie wieder wach gemacht. Ihre Finger sind kalt, sie hat die Handschuhe vergessen und versucht nun, die Hände unter den Achseln zu wärmen, während der Blick ihrer nachtdunklen Augen dem kleinen, braunen und fast haarlosen Hund folgt, dessen Ohren abstehen wie bei einer Fledermaus.

Neles Begabung ist es eindeutig, Situationen heraufzubeschwören.
„Es geht nicht darum, korrekt ein paar Worte aufs Papier zu bringen. Erfolgreich bist du, wenn im Kopf deiner Leser sich ganze Filme abspulen!“, hatte sie mir einmal erklärt. Daran muss ich in solchen Situationen immer denken.
„Auf einmal hört sie Schritte. Langsam kommt ihr jemand entgegen. Sie riecht den Duft einer aromatischen Zigarettensorte, ein kleiner, glühender Punkt taucht vor ihr auf. Dann schält sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Die Frau bleibt stehen. Sie tut so, als schaue sie auf den Hund, während sie aus den Augenwinkeln heraus in Wirklichkeit den Mann beobachtet. Er ist nicht viel größer als sie, etwas untersetzt, gut gekleidet, trägt einen Hut. Während er gemächlich daherschreitet, raucht er seine Zigarette.“
Jetzt sehe ich den Mann auch. Hut und Mantel sind weich und hellgrau, eine Hand steckt in der Manteltasche, die andere, behandschuht, führt die Zigarette.
„Er hat sie gesehen, natürlich, es ist nicht offensichtlich, er dreht weder den Kopf noch verändert er seinen Schritt. Dennoch spürt sie, dass der Mann sie jetzt beobachtet.“
Mir läuft ein leichter Schauer den Rücken hinunter. Die dunkle Nacht, die eisige Kälte, niemand ist unterwegs. Der kleine Hund dürfte kaum eine Hilfe sein und plötzlich wird der Frau bewusst, wie einsam die Mainpromenade mitten in der Nacht ist.
„Die Augen des Mannes sieht sie nicht, er hält den Kopf gerade so weit gesenkt, dass sein Hut einen Schatten darüber wirft. Ein weißer Bart rahmt die untere Hälfte seines Gesichtes ein. Sein Mund ist dunkel, als habe er Rotwein getrunken.“
Das ist eklig. Ich mag keine Männer mit zu roten Lippen, das hat mir schon immer ein gewisses Unbehagen eingeflößt. So stelle ich mir auch die Frau vor, die jetzt den kleinen Hund näher zu sich zieht. Vielleicht macht sie auch einen Schritt von der Promenade weg auf den von gefrorenem Schnee überzogenen Rasen? Unter ihren Füßen knirscht und knackt es, kalt und ungerührt.
„Ein Auto fährt auf der Uferstraße entlang, seine Scheinwerfer erhellen ganz kurz die Szenerie. Wie in Zeitlupe geht der Mann an der Frau mit dem Hund vorbei. Zieht seine Hand aus der Tasche, lüpft kurz seinen Hut, während er in ihre Richtung blickt, und geht vorbei. Das Herz der Frau rast nun, sie kommt sich vor, als sei sie einer Bedrohung entronnen. Dabei spürt sie instinktiv eine Gefahr, die ihr immer noch droht.“
Natürlich! Die Frau war einfach mit dem Hund hinausgegangen, vielleicht lief sie abends öfter diese Strecke. Nun wurde ihr auf einmal bewusst, wie leichtsinnig das war. Der Mann hatte sie daran erinnert. Jetzt war er vorbei gegangen. Doch die Frau fühlte sich auf einmal nicht mehr sicher …
„Himmel! Ist es wirklich schon so spät?“ Nele schaut auf ihre Uhr und winkt hektisch nach dem Kellner, während sie ihr Glas austrinkt. „Berthold und die Kinder werden sich schon fragen, wo ich bleibe!“, meint sie und schiebt mir den Zettel mit den Notizen der letzten Viertelstunde zu.
„Nimm diesen Text“, sagt Nele. „Mach was draus. Der ist noch nicht fertig. Es passiert noch was!“
Kurz darauf umarmen wir uns auf der nachtdunklen Straße. Während sie forsch nach links geht, ihrer Familie entgegen, muss ich in die andere Richtung. Unwillkürlich blicke ich auf die Uhr. Es ist noch gar nicht spät, nicht, für einen Mädelsabend in der Großstadt. Wenn man es einmal so nennen will, wenn sich zwei alte Freundinnen treffen. In meiner Manteltasche knistert das von Nele beschriebene Papier. Gleich werde ich mich zu Hause an den Rechner setzen, alles noch einmal in ganzen Sätzen zu Papier bringen und mir den weiteren Fortgang der Geschichte ausdenken. Mal sehen, was dieses Mal daraus wird. Aus diesem Text, den sie mir so großzügig überlässt, der meine Phantasie anstößt. So, dass sie oft hinterher sagt: „Was, diesen Text soll ich mit fabriziert haben?“ Vielleicht macht sie das auch nur mir zuliebe, damit ich ihre Ideen sozusagen nicht nur adoptiere, sondern als meine betrachte.

Nele – irgendwann gibt’s ein Buch von mir mit lauter Kurzgeschichten. Ich werde sie „Geschichten von Nele“ nennen. Und keine Widerworte, das Ding widme ich dir!

 

Veröffentlichung – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung der Autorin.
(c) Celia Martin

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